In unserer heutigen Gesellschaft scheint sich alles um die Kinder zu drehen. Wir entwickeln immer ausgeklügeltere pädagogische Konzepte, um ihre Interessen zu fördern. Es gibt Resilienzkurse, Therapien und Förderprogramme, die darauf abzielen, aus den Kindern die besten Menschen zu machen, die sie nur sein können. Doch dabei übersehen wir ein entscheidendes Problem: Wir vergessen die Erwachsenen.
Erwachsene am Limit
Die Menschen, die diese Kinder begleiten sollen, tragen selbst oft einen schwer beladenen Rucksack. Viele Erwachsene sind geprägt von schwierigen Familiengeschichten, traumatischen Erfahrungen, Existenzängsten und Stress am Arbeitsplatz. Sie leben am Limit. Und genau diese Erwachsenen sollen Kinder zu selbstbewussten, starken Persönlichkeiten erziehen. Doch wie soll das gehen, wenn sie selbst kaum Ressourcen haben? Wenn sie keinen Raum finden, um ihre eigene Geschichte zu reflektieren, geschweige denn zu verarbeiten?
Selbstbewusste Kinder – eine Herausforderung für Erwachsene
Zudem beobachten wir, dass Kinder heute oft selbstbewusster auftreten als früher. Sie hinterfragen, fordern und brauchen starke Gegenüber. Viele Erwachsene empfinden dies als Herausforderung, ja sogar als Überforderung. Das führt uns in einen Teufelskreis: Erwachsene, die selbst am Rande ihrer Belastungsfähigkeit stehen, treffen auf Kinder, die emotionale und geistige Stärke verlangen – und beide Seiten stoßen an ihre Grenzen.
Der Fokus muss sich verschieben
Wie also können wir aus diesem Kreislauf ausbrechen? Die Antwort liegt darin, den Fokus zu verschieben: weg von den Kindern, hin zu den Erwachsenen. Lasst die Kinder einfach mal Kinder sein. Gebt ihnen die Freiheit, ohne den ständigen Druck von Förderung und Optimierung aufzuwachsen. Stattdessen müssen wir uns darauf konzentrieren, Erwachsene zu stärken und zu heilen.
Ein sicherer Ort für Erwachsene
Was es braucht, ist ein sicherer Ort für Erwachsene. Ein Raum, in dem Gefühle Platz finden, Familiengeschichten eingeordnet werden und Worte für das gefunden werden können, was passiert ist – und was noch immer nachwirkt. Was ist da passiert, fragst du dich? Die letzten 100 Jahre hinterlassen Spuren: Kriege, Not, Spaltung, Erziehungsmethoden, die kriegstüchtig machen sollten, Machtstrukturen innerhalb der Familie, Hierarchien, Gehorsam und ein Leben, das primär auf Funktionieren ausgerichtet war.
Diese Erfahrungen stehen im krassen Gegensatz zu den Werten, die wir heute unseren Kindern vermitteln wollen: Selbstbestimmung, Freiheit, Respekt und emotionale Verbundenheit. Doch es reicht nicht, einfach neue Erziehungsmethoden zu entwickeln. Es braucht Erwachsene, die bereit sind, ihre eigene Heilung in Angriff zu nehmen.
Konkrete Tipps: Wie Erwachsene heilen können
Damit Erwachsene stärker werden und Kindern ein stabiles Gegenüber bieten können, sind folgende Schritte hilfreich:
- Gefühlen Raum geben: Schaffe Momente der Ruhe, in denen du dich deinen eigenen Emotionen widmest. Journaling, Meditation oder Gespräche mit vertrauten Personen können helfen, Klarheit zu gewinnen.
- Familiengeschichte reflektieren: Setze dich bewusst mit deiner Vergangenheit auseinander. Welche Muster prägen dich? Was trägst du unbewusst weiter? Ein Coach, Therapeut oder Familienaufstellungen können hier wertvolle Unterstützung bieten.
- Selbstfürsorge etablieren: Sorge gut für dich, bevor du für andere sorgen kannst. Regelmäßige Pausen, gesunde Ernährung und Bewegung sind nicht egoistisch, sondern notwendig, um langfristig stark zu bleiben.
- Verantwortung übernehmen: Anstatt den Druck auf die Kinder zu übertragen, übernimm Verantwortung für deine eigenen Themen. Kinder sollten keine emotionalen Lasten tragen, die sie nicht bewältigen können.
- Neue Rollenbilder entwickeln: Sei ein Vorbild für deine Kinder. Zeige, wie man Konflikte löst, Grenzen setzt und gleichzeitig liebevoll bleibt. Kinder lernen weniger durch Worte als durch das Verhalten ihrer Bezugspersonen.
Erwachsene, die ein Gegenüber sein können
Nur Erwachsene, die sich selbst reflektieren und heilen, können den Kindern ein echtes Gegenüber sein – ein Gegenüber, an dem sie sich reiben und wachsen können. Kinder brauchen Erwachsene, die sie aushalten, nicht ruhig halten. Erwachsene, die Verantwortung übernehmen, anstatt diese auf die Kinder zu übertragen.
Ein neues Gleichgewicht
Letztendlich geht es darum, den Druck von den Kindern zu nehmen und ihnen Raum zu geben, wirklich Kind sein zu dürfen. Doch das gelingt nur, wenn wir Erwachsenen den Mut haben, uns unserer eigenen Vergangenheit zu stellen und Verantwortung für unsere Gegenwart zu übernehmen. Nur dann schaffen wir eine Welt, in der sowohl Kinder als auch Erwachsene wachsen und gedeihen können.