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Warum klassische Psychotherapie für neurodivergente Menschen oft nicht ausreicht

Warum klassische Psychotherapie für neurodivergente Menschen oft nicht ausreicht

Immer wieder sitzen Menschen bei mir, die schon eine lange Reise durch das Hilfesystem hinter sich haben. Sie waren in Gesprächen mit Psychotherapeuten, vielleicht sogar über Monate oder Jahre. Und trotzdem sagen sie am Ende: „Ich habe mich nicht verstanden gefühlt.“ Oder: „Ich dachte, ich bin falsch – weil es da nie wirklich um mich ging.“ Besonders häufig höre ich das von Menschen mit einer späten ADHS- oder Autismus-Diagnose. Sie kamen in die Therapie mit großen Hoffnungen, doch diese wurden enttäuscht.

Warum ist das so?

Die Lücke im System: Wenn das Fachwissen fehlt

In der psychotherapeutischen Ausbildung wird zwar über ADHS und Autismus gesprochen – aber meist sehr allgemein. Es geht um Symptome, Diagnosekriterien, Studienlage. Doch wie sich ein neurodivergentes Gehirn tatsächlich anfühlt, wie es denkt, erlebt, überfordert oder inspiriert wird – das bleibt oft außen vor. Diese Erfahrungswelt wird selten durchdrungen, und so bleibt das Verständnis oberflächlich.

Therapeuten lernen, wie man Verhalten interpretiert. Sie suchen nach Ursachen in Biografie und Beziehungsmustern. Was aber, wenn die Ursache neurobiologisch ist? Was, wenn das Kind sich nicht aus Trotz zurückzieht, sondern weil der Lärm in der Pause wie ein Orkan auf sein Nervensystem wirkt? Was, wenn der Erwachsene keine emotionale Instabilität zeigt, sondern schlicht mit einem Dopaminmangel zu kämpfen hat?

Ohne ein tiefes Verständnis für diese Unterschiede kann Psychotherapie an den entscheidenden Punkten vorbeigehen.

Der Preis der Anpassung

Ein weiterer Grund, warum klassische Psychotherapie für neurodivergente Menschen oft nicht hilfreich ist: Der implizite Auftrag zur Anpassung. Viele Therapieansätze, insbesondere bei ADHS, zielen darauf ab, „funktionaler“ zu werden. Strukturen schaffen, sich besser regulieren, sozial kompatibler verhalten. Das mag auf den ersten Blick hilfreich wirken – und ja, gewisse Strategien können entlasten. Aber oft bleibt dabei auf der Strecke, wer der Mensch eigentlich ist.

Autistische Menschen erleben in der Therapie häufig den Druck, „normaler“ zu wirken. Ihr Kommunikationsstil, ihre Wahrnehmung, ihr Bedürfnis nach Klarheit oder Rückzug – all das wird als Defizit gelesen, das es zu beheben gilt. Aber was, wenn genau darin ihr Wert liegt? Was, wenn der Schmerz nicht in der Andersartigkeit liegt, sondern in der permanenten Anforderung, sich zu verbiegen?

Die Gefahr der Fehlinterpretation

Viele neurodivergente Symptome können leicht psychologisch fehlgedeutet werden: Reizüberflutung wird als Angststörung gelesen. Emotionsdurchbrüche als Borderline. Rückzug als Depression. Und plötzlich landen Menschen in einer Therapie, die sich um die falsche Baustelle dreht. Sie sollen traumatische Erfahrungen aufarbeiten, obwohl der eigentliche Schmerz darin liegt, dass sie nie als die Person gesehen wurden, die sie sind.

Statt Entlastung erleben viele eine zusätzliche Verwirrung. Die Diagnose kommt spät – wenn überhaupt. Und oft erst, wenn der Mensch sich selbst auf die Suche macht.

Was neurodivergente Menschen wirklich brauchen

✨ Sie brauchen Räume, in denen sie nicht analysiert, sondern verstanden werden. In denen nicht zuerst nach Defiziten, sondern nach Bedürfnissen gefragt wird.

✨Sie brauchen Berater, Coaches, Therapeuten, die zuhören ohne zu bewerten. Menschen, die bereit sind, sich auf eine andere Denkweise einzulassen. Die sich selbst weiterbilden, die zugeben, wenn sie etwas (noch) nicht verstehen – und genau darin vertrauenswürdig werden.

✨Sie brauchen keine Standardlösungen, sondern individuelle Wege. Und manchmal brauchen sie einfach jemanden, der sagt: „Es ist nicht deine Schuld. Du bist nicht kaputt. Du bist nur anders verdrahtet.“

Mein Beitrag

Ich arbeite nicht therapeutisch, aber ich arbeite beziehungsorientiert. Ich höre zu, stelle Fragen, begleite Entscheidungen. Ich interessiere mich für das Erleben hinter dem Verhalten – und lasse Raum für Vielfalt. Ich glaube, dass neurodivergente Menschen nicht in die Mitte der Gesellschaft gebracht werden müssen. Die Gesellschaft muss sich so erweitern, dass sie Platz für mehr als eine Wahrheit hat.

Wenn du dich in herkömmlicher Therapie nie ganz gesehen gefühlt hast, dann liegt das nicht an dir. Sondern an einem System, das oft zu wenig versteht von dem, was du brauchst. Und genau darum braucht es neue Wege, neue Gespräche, neue Räume.

Vielleicht ist dieser Blog einer davon.

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Zertifiziertes Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Systemische Therapie, Beratung und Familientherapie (DGSF)

Ich bin Christina Eberitsch, systemische Beraterin mit Schwerpunkt Paare, Eltern und Familien in Unterwellenborn. Als hochsensible Mama von vier Kindern und Ehefrau lebe ich authentisch das, was ich meinen Klienten vermittle.

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